
Das war die Gelegenheit – nicht nur einen Abend in der Berliner Philharmonie zu verbringen, sondern auch einem äußerst interessantem Programm beizuwohnen. Angekündigt waren „The Unanswered Question“ von Charles Ives, „Knoxville“ von Samuel Barber und Schumanns Symphonie Nr. 2. Die Klammer aller drei Werke, so die Programmverantwortlichen, sei die existenzielle Krise, die sich in der Musik dieser drei Komponisten ausdrücke. „Die Grundfesten der menschlichen Daseins“ würden berührt, und das sind ja dann wahrlich große Worte.
Für mich persönlich lag der besondere Reiz dieses Programms darin, endlich wieder einmal „The Unanswered Question“ live zu hören. Ein Werk, das etwas mehr als sechs Minuten lang ist, mich aber seit meiner Jugend fasziniert und nicht mehr losgelassen hat. Das Stück selbst hat drei Ebenen: die Trompete stellt sieben Mal die gleiche Frage, sechs Mal antworten die Flöten: erstaunt, wütend und auch spöttisch. Am Ende verstummen sie. Unabhängig davon spielt das Streichorchester, welches als dritte Ebene dem Ganzen einen melodischen Klangteppich unterbreitet.
Ives selbst hat Kommentare zur Interpretation hinterlassen und wenn es sich dadurch schon fast um Programmmusik handelt, ist The Unanswered Question immer noch gekennzeichnet durch eine hohe Ambiguität. Weder sind die einzusetzenden Instrumente noch Tempi von Ives wirklich eindeutig festgelegt, noch kann man mit den Hinweis z.B. auf den Hintergrund der Streicher als „Schweigen der Druiden“ wirklich etwas anfangen. Und auch der Titel bleibt natürlich rätselhaft. Worin besteht denn diese Frage? Auch wenn es da an Interpretationen nicht mangelt, vielleicht sollte man erst gar nicht versuchen, dies zu ergründen.
Aber es gibt noch einen sentimentaleren Grund, warum ich bei diesem Stück so anhänglich bin, denn kennengelernt habe ich es damals durch die Vorlesungsreihe von Leonard Bernstein, die im Fernsehen übertragen wurde. Heute ja unvorstellbar, dass so etwas im Öffentlich-Rechtlichen läuft, hatte aber auf dem BBC-Kanal damals sehr viel Zuspruch erhalten.
Die sechs Lectures lebten von dem Charisma Bernsteins, der mit großer Begeisterung und Schwung durch die Vorlesungen führte. Besonders beeindruckend war das Unterfangen, Chomskys generative Transformationsgrammatik auf die Musik zu übertragen. Noam Chomsky machte damals mit seiner Theorie im Bereich der Linguistik Furore und war in den 80iger Jahren der meistzitierte Wissenschaftler der Welt.
Mit seinen Einlassungen war das manchmal aber doch eher verwirrend als erhellend und Bernstein musste tatsächlich einige gewagte Kniffe anwenden, um ein einigermaßen stimmiges Bild zu erzeugen. Er machte es passend, wenn ich mich höflich ausdrucken wollte. Musikkritiker waren in Folge auch sehr skeptisch und störten sich mehrheitlich daran, dass sich Bernstein die Zukunft der Musik ohne Tonalität nicht vorstellen wollte. Dies betonte er in seiner Vorlesung, in der er sich in besonderer Weise mit Adorno auseinandersetzte. Die Frage nach dem Wohin in der Musik verknüpfte er mit Charles Ives „The Unanswered Question“.
Die Mehrheit im Publikum waren von diesen grüblerischen Gedanken wahrscheinlich unbelastet und applaudierten dem Dirigenten Antonello Manacorda nach den sechseinhalb Minuten Ives so stürmisch, als ob er ihnen nicht nur die Frage endgültig formuliert, sondern auch die fehlende Antwort mitgeliefert hätte. Ich selbst hatte jetzt da keinen Gedankenblitz, aber vielleicht war ich nicht konzentriert genug.
Die Symphonie in C-Dur von Schumann wurde in das Programm aufgenommen, weil sich der Komponist zur damaligen Entstehungszeit wirklich in einer existenziellen Krise befand. Schumann wurde von Depressionen geplagt und zog sich gesellschaftlich immer weiter zurück. Das tat den geneigten Zuhörerinnen und Zuhörer jedoch keinen Abbruch. Die Begeisterung über die Symphonie war augenscheinlich sehr groß, so dass auch zwischen den Sätzen ausdauernd applaudiert wurde. Die Energie übertrug sich sicherlich auch auf den Dirigenten, der immer wieder in die Knie ging, dann endlich dynamisch schnellte, um sich endlich groß aufzurichten. Dann wieder wippte von einem Bein auf das andere, so sehr, dass man befürchten musste, er fiele nach vorne in die Streichergruppe.
Das Konzert endete im tobenden Applaus und alle hatten ihren Spaß. Und das ist ja dann wirklich die Hauptsache.